Bookmarket vom Lektüreseminar: Neue Bücher zur Krise der liberalen Demokratie

Ein Bookmarket zur Krise der liberalen Demokratie


Das Masterseminar „Neue Bücher zur Krise der liberalen Demokratie“ von Prof. Dr. Tine Stein lädt herzlich zu einem Bookmarket ein, die am Mittwoch, den 5. Februar 2025, von 16:15 bis 17:45 Uhr im Foyer des ZHG stattfinden wird. Die Veranstaltung präsentiert ausgewählte Bücher zur Krise der liberalen Demokratie mit Plakaten, Kurzvorträgen und persönlichen Gesprächen. Besucher*innen haben die Möglichkeit mit den Studierenden des Seminars in einen lebendigen Austausch zu treten. Für das leibliche Wohl wird gesorgt. Wir freuen uns über rege Teilnahme!

Die Studierenden haben im Folgenden Ihre Plakate, sowie Fragen und Antworten und Rezensionen zu Ihren einzelnen Themen veröffentlicht.

Plakate und Rezensionen zu den einzelnen Themen

Selk Cuhls-Fitzpatrick_Poster_Bookmarket_Selks-Demokratiedaemmerung

Demokratiedämmerung

Veith Selk

Kann man politische Systeme wie das Deutschlands noch als Demokratien bezeichnen? Veith Selk stellt diese Frage kritisch in den Fokus seines Buches Demokratiedämmerung. Er analysiert die aktuellen Herausforderungen demokratischer Systeme und untersucht mögliche Alternativen zur Demokratie und geht der Frage nach, ob diese tatsächlich tragfähige Alternativen darstellen. Abschließend argumentiert Selk, dass auch die Demokratietheorie vor einer grundlegenden Herausforderung stehe: Da sie normativ an die Existenz der Demokratie gebunden sei, würden deren Probleme zugleich eine existenzielle Krise für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihr bedeuten.

Frage 1: Welches der folgenden Probleme benennt Veith Selk nicht als eines der aktuellen Probleme, mit denen sich Demokratien aktuell konfrontiert sehen?
a. Abnehmendes Vertrauen der Bevölkerung in politische Institutionen
b. Mangelnde Integration von Minderheiten und Randgruppen
c. Mangelnde Partizipationsmöglichkeiten, zunehmende Komplexität von Politik und Wissensunterschiede innerhalb der Bevölkerung
d. Zunahme autoritärer Tendenzen und politische Polarisierung
Frage 2: Welchen der Folgenden Gründe benennt Veith Selk nicht als Argument gegen Rechtpopulismus, Expertokratie und partizipatorische Governance?
a. Die Ansätze schließen zu große Teile der Bevölkerung aus
b. Die Ansätze sind nachdemokratisch und defizitär
c. Die Ansätze lassen sich nicht in die Praxis umsetzen
d. Die Ansätze sind wenig pluralistisch
Frage 3: Welches der folgenden Probleme benennt Selk nicht als aktuelle Herausforderung für die Demokratietheorie?
a. Die Demokratietheorie diene nur noch der Rechtfertigung der Demokratie
b. Zunehmende Diskrepanz zwischen Modellen und real existierenden Demokratien
c. Die zunehmende politische Polarisierung in Demokratien
d. Die normative Abhängigkeit der Demokratietheorie von der Demokratie
Frage 1: Frage 1: Welches der folgenden Probleme benennt Veith Selk nicht als eines der aktuellen Probleme, mit denen sich Demokratien aktuell konfrontiert sehen?
Antwort: b. Mangelnde Integration von Minderheiten und Randgruppen

Frage 2: Welchen der Folgenden Gründe benennt Veith Selk nicht als Argument gegen Rechtpopulismus, Expertokratie und partizipatorische Governance?
Antwort: c. Die Ansätze lassen sich nicht in die Praxis umsetzen

Frage 3: Welches der folgenden Probleme benennt Selk nicht als aktuelle Herausforderung für die Demokratietheorie?
Antwort: c. Die zunehmende politische Polarisierung in Demokratien
Manow Poster_Philip_Manow

Unter Beobachtung

Philip Manow

Philip Manow untersucht in Unter Beobachtung, wie und warum der Begriff der liberalen Demokratie politisch relevant wurde. Er zeigt, dass analytische Konzepte nicht nur deskriptive Werkzeuge sind, sondern eng mit den institutionellen Kontexten und politischen Konflikten verknüpft sind, die sie eigentlich nur beschreiben sollen. Die aktuelle Krise der liberalen Demokratie sei eine direkte Folge der politischen Umbrüche von 1989/90.

Mit dem Ende des Kalten Krieges setzte eine zunehmende Verrechtlichung und Konstitutionalisierung der Politik ein, die Entscheidungsprozesse einengte und politische Handlungsfähigkeit einschränkte. Dies habe langfristig zu Spannungen innerhalb demokratischer Systeme geführt. Manow verbindet diese institutionelle Entwicklung mit einer Begriffsgeschichte der Demokratie und zeigt, dass politische Kategorien immer historisch geprägt sind. Besonders zentrale Begriffe wie „liberale Demokratie“ seien nicht nur analytische Werkzeuge, sondern auch politische Konstruktionen. Indem er diese Verflechtungen sichtbar macht, eröffnet Manow eine neue Perspektive auf die Herausforderungen der Demokratie.

Die These des Buches: Der Aufstieg des Populismus ist auch durch das Verhalten anderer Akteur*innen und Institutionen in unserem demokratischen System begünstigt.
Manow argumentiert, dass der Populismus nicht isoliert entstanden ist, sondern als eine Art „Wiedergänger der vom Liberalismus erstickten Politik“ ist. Er sei eine Reaktion auf die Liberalisierung und Institutionalisierung politischer Prozesse, die aus Sicht der Populisten demokratische Mitbestimmung einschränken. Die zunehmende Macht von nicht-majoritären Institutionen wie Verfassungsgerichten trägt zu dieser Entwicklung bei, da sie Entscheidungen über den Willen der gewählten Mehrheit hinweg treffen.

Zum Autor:
Philip Manow ist Politikwissenschaftler und seit 2024 Professor für Internationale Politische Ökonomie an der Universität Siegen. Zuvor forschte und lehrte er an den Universitäten Köln und Konstanz. Seine Arbeiten befassen sich mit Demokratie, Populismus und politischer Ökonomie, darunter Die Politische Ökonomie des Populismus (2018) und (Ent-)Demokratisierung der Demokratie (2020). Aktuell untersucht er die Herausforderungen der Demokratie aus theoretischer und empirischer Perspektive.
Mit seinem Buch „Unter Beobachtung“ wirft Philip Manow (2024) einen Blick auf die Krise der liberalen Demokratie und damit einhergehend das Aufsteigen des Populismus. Dieser Blickwinkel wurde in der bisherigen politikwissenschaftlichen Forschung wenig beachtet und sorgt für eine Erweiterung des Blickfeldes zur Betrachtung der Krise der liberalen Demokratie. In seiner bissigen Art ist das Buch in großen Teilen sowohl interessant als auch unterhaltsam gestaltet. Dadurch ist es erheiternd seiner in großen Teilen plausiblen, wenn auch kontroversen, Problemanalyse zu folgen.

Leider bleiben gegen Ende des Buches die Lösungsvorschläge zu seiner durchaus zutreffenden Problemanalyse sehr knapp. Dies trübt den Eindruck des Buches und lässt den*die Leser*in mit einem Gefühl der Ohnmacht gegenüber der Krise der liberalen Demokratie zurück. Dennoch ist das Buch angenehm lesen und schafft einen neuen erfrischenden Einblick in die politikwissenschaftliche Forschung zur Krise der liberalen Demokratie. Darüber hinaus kann es sicherlich einige Denkanstöße zur weitergehenden Betrachtung derer bieten, welche die politikwissenschaftliche Forschung bereichern werden.
Manow argumentiert, dass die zunehmende Macht von Verfassungsgerichten potenziell problematisch sein kann. Einerseits sind sie als Schutzmechanismen der liberalen Demokratie gedacht, indem sie Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte sichern. Andererseits gibt es jedoch eine Spannung zwischen Demokratie und Verfassungsgerichtsbarkeit: Die zunehmende Übertragung von Entscheidungskompetenzen an nicht-demokratisch legitimierte Institutionen wie Verfassungsgerichte kann demokratische Prozesse schwächen. Zudem wird argumentiert, dass Verfassungsgerichte nicht nur den Status quo verteidigen, sondern auch politische Konflikte erzeugen und somit selbst zu politischen Akteuren werden. Außerdem zweifelt er den tatsächlichen Einfluss und Willen der nicht majoritären Institutionen an und sagt, dass eher die Gesellschaft den Rechtsstaat verteidigt als der Rechtsstaat die Gesellschaft und die Demokratie.
Manow macht eine Unterscheidung zwischen „elektoraler Demokratie“ und „liberaler Demokratie“. Populismus wird dabei nicht zwingend als Gegner der Demokratie schlechthin gesehen, sondern vielmehr als Gegenbewegung zur liberalen Demokratie. Er stellt eine Reaktion auf die Institutionen und Machtmechanismen der liberalen Demokratie dar, insbesondere auf die Kontrolle durch Verfassungsgerichte und andere nicht-gewählte Institutionen. Populismus fordert oft eine stärkere Volkssouveränität und wendet sich gegen die „checks and balances“ der liberalen Ordnung.
Norris Poster Bookmarket_Pippa Norris

In Praise of Skepticism

Pippa Norris

Vertrauen ist eine ambivalente Grundlage menschlicher Interaktion – sowohl im sozialen Miteinander innerhalb einer Gesellschaft als auch im Verhältnis zu politischen Institutionen und der Regierung. Pippa Norris argumentiert, dass sowohl übermäßiges Vertrauen als auch übermäßiger Zynismus problematisch sein können. Besonders gefährlich ist blindes Vertrauen in autoritäre Führer. Sie entwickelt daher eine Theorie des „skeptischen Vertrauens“ als Grundlage für fundierte, evidenzbasierte Entscheidungen. Vertrauen wird als informeller Sozialvertrag beschrieben, bei dem Akteur:innen im Interesse ihrer Auftraggeber:innen unter Risiko und Unsicherheit handeln.

Eine funktionierende Demokratie braucht Skepsis, um informierte Entscheidungen zu ermöglichen und Machtmissbrauch vorzubeugen. Laut Pippa Norris ist „skeptisches Vertrauen“ ein Ausgleich zwischen blindem Vertrauen und destruktivem Zynismus.

Skeptizismus hat eine schützende Funktion gegenüber Einflussnahmen und Fake News, die ernsthafte Konsequenzen nach sich ziehen können – insbesondere in Pandemiezeiten. Sie fördert Transparenz und Verantwortlichkeit, indem sie Beweise für politische Versprechen verlangt und Mechanismen zur Bekämpfung von Korruption unterstützt. Blindes Vertrauen spielt keine Rolle. Vielmehr ist es wichtig, die Kompetenz, Integrität und Unparteilichkeit einer Person anhand von Fakten zu bewerten.

Auch regt Skepsis das unverzichtbare kritische Denken an, das für eine überlegte Auseinandersetzung mit politischen Entscheidungen und die Bekämpfung des Populismus notwendig ist. Sie schreckt sowohl unreflektiertes Vertrauen als auch Apathie ab, wodurch sie Extremismus und Polarisierung vorbeugt.
Pippa Norris zufolge ist Vertrauen nicht nur individuell, sondern wird durch gesellschaftliche Strukturen und Erfahrungen geformt.

  • Kulturelle Prägung: Stabile soziale Strukturen fördern Vertrauen, während Korruption und soziale Fragmentierung Misstrauen begünstigen.
  • Staatliche Integrität: Ehrliche, transparente Regierungen stärken Vertrauen, während Korruption es untergräbt.
  • Medienlandschaft: Unabhängige Medien informieren in offenen Gesellschaften, während autoritäre Regierungen Vertrauen durch Propaganda manipulieren.
  • Bildung: Höhere Bildung und Medienkompetenz helfen Bürger*innen, Informationen kritisch zu prüfen und „skeptisches Vertrauen“ zu entwickeln.
  • Wirtschaft und Krisen: Wirtschaftliche Sicherheit fördert Vertrauen, soziale Ungleichheit schürt Misstrauen. Krisen können Vertrauen stärken oder zerstören.

Pippa Norris zeigt, dass Vertrauen in Demokratien auf überprüfbarer Vertrauenswürdigkeit basiert, während es in autoritären Regimen durch Propaganda, Angst oder eingeschränkte Infor-mationsfreiheit entsteht.

In Demokratien beruht Vertrauen auf Integrität, Kompetenz und Transparenz. Bürger*innen kontrollieren die Regierung durch Wahlen, freie Medien und unabhängige Gerichte. In autoritären Staaten wird Vertrauen oft durch Manipulation erzeugt.

Freie Medien hinterfragen in Demokratien das Regierungshandeln und ermöglichen faktenba-sierte Entscheidungen. Autoritäre Regierungen kontrollieren die Medien, wodurch Vertrauen künstlich hoch erscheint.

Checks and Balances sichern in Demokratien Rechenschaftspflicht, während Misstrauen politische Beteiligung fördert. In autoritären Staaten fehlen oft Konsequenzen für Fehlverhalten, was langfristig zu plötzlichen Vertrauenskrisen führt.
Plakat Steinbeis

Die Verwundbare Demokratie

Maximilian Steinbeis

Abstract: In einer Zeit in der Parteien wie die AfD immer mehr erstarken, kommt immer wieder die Frage auf, was bei einer Regierungsbeteiligung dieser Parteien geschehen könnte. Maximilian Steinbeis möchte dies anhand der AfD im Bundesland Thüringen untersuchen.

Zu Beginn werden die verschiedenen Bereiche besprochen, in denen ein Minister Einfluss nehmen könnte, etwa bei der Justiz. Neben den Ministerposten wird auch besprochen welchen Einfluss bereits kommunale Positionen und Landratspositionen haben können und welche Handlungsoptionen der Bund und die Bevölkerung haben sich gegen eine autoritäre Machtübernahme zur Wehr zu setzen.

Die Zentrale These ist: Populistische Führung nutzen demokratische Institutionen, um Freiheit und Demokratie zu untergraben.
Frage: Wie kann eine Demokratie ihre Institutionen und Verfahren effektiv vor populistischen Angriffen schützen, ohne selbst undemokratische Tendenzen zu entwickeln?

Antwort: Um zu verhindern, dass eine Partei die Demokratie nutzt, um die Freiheiten der Demokratie abzuschaffen, kann es passieren, dass ein Staat selber die Freiheiten seiner Bürger einschränkt. Dies soll gerade nicht geschehen, auch wenn einige Einschränkungen, wie mehr Prüfungen bei Einstellungen von Personen oder auch die weitere Ausdifferenzierung der Meinungsfreiheit möglich ist.

Eine genaue Antwort erscheint daher schwierig, Steinbeis weißt jedoch immer wieder auch auch die sozialen Komponenten hin, wenn die Bevölkerung ihre Meinung offen zeigt, kann dies viel helfen. Eine andere Option ist oft das Schützen von besonders sensiblen Stellen, wie etwa der Justiz, von zu viel Einfluss durch die Regierungsparteien.

Zu Beginn des Werkes führt Steinbeis hier jedoch auch das sogenannte Böckenförde Diktum an, welches davon ausgeht, dass die Demokratie auf Grundsätzen aufbaut, die sie selber nicht garantieren kann.
Richter WS2425-Poster_Bookmarket_Demokratie&Revolution.pptx

Demokratie und Revolution

Hedwig Richter und Bernd Ulrich

Das Buch von Richter und Ulrich befasst sich mit dem Verhältnis von Demokratie und ökologischer Krise. Die Autor:innen fragen, warum die heutigen Gesellschaften nicht genügend radikale Schritte in Richtung Nachhaltigkeit unternehmen und wie diese Herausforderungen durch demokratische Prozesse gelöst werden können. Sie argumentieren, dass Demokratie und Ökosystem ohne revolutionäre Veränderungen nicht gemeinsam überleben können.

Das zentrale Argument des Buches ist, dass bestehende demokratische Systeme die Macht haben, ökologische Katastrophen zu verhindern, dass diese Macht aber nicht effektiv genutzt wird. Daher betonen die Autoren die Notwendigkeit einer gewaltfreien ökologischen Revolution in der heutigen Zeit. Das Buch fordert die Leser:innen zu mutigeren politischen Schritten auf. Die Autoren plädieren dafür, dass sowohl Individuen als auch Staaten Verantwortung übernehmen müssen und zeigen, wie demokratische Prozesse mit ökologischem Bewusstsein neu gestaltet werden können.
Die Autor:innen üben scharfe Kritik an der Haltung der westlichen Gesellschaften gegenüber der Umweltkrise und argumentieren, dass diese Haltung unzureichend ist, um der Krise wirksam zu begegnen. Die zentralen Argumente ihrer Kritik sind folgende:

  • 1. Das Ignorieren von Nebenwirkungen: Die westlichen Gesellschaften blenden die ökologischen und sozialen Nebenwirkungen ihrer eigenen politischen Entscheidungen und Lebensweisen aus. Prozesse wie Globalisierung, Konsumkultur und demokratische Politik haben unerwünschte Folgen (z. B. Umweltverschmutzung, Artensterben, globale Ungleichheiten), die zwar bewusst in Kauf genommen wurden, aber dennoch als unausweichlich dargestellt werden.
  • 2. Normalisierung und der Diskurs über Normalität: Bestimmte Gruppen in westlichen Gesellschaften empfinden die durch die Klimakrise bedingten Veränderungen und Herausforderungen als einen „Angriff auf die Normalität“. Wenn tiefgreifende Veränderungen notwendig werden, um dem Klimawandel entgegenzuwirken, sehen sie dies als Bedrohung für ihren Lebensstil. Dies begünstigt das Erstarken populistischer Narrative und eine ablehnende Haltung gegenüber ökologischen Maßnahmen.
  • 3. Das sich wandelnde Verhältnis von Demokratie und Konsum: Im 20. Jahrhundert waren westliche Demokratie und Konsumkultur eng miteinander verbunden. Die Idee, dass Menschen durch den freien Markt als Konsumenten zum gesellschaftlichen Wohl beitragen, war weit verbreitet. Die Autor:innen argumentieren jedoch, dass dieser Zusammenhang heute nicht mehr besteht und Konsum die Demokratie eher untergräbt als stärkt. Am Beispiel Chinas zeigen sie, dass Konsum nicht zwangsläufig mit Demokratie einhergeht und dass auch autoritäre Regime Wohlstand ermöglichen können.
  • 4. Technokratie und das Fehlen emotionaler Bindung: Die westlichen Gesellschaften setzen im Umgang mit der Umweltkrise oft auf technokratische Lösungen. Die Autor:innen betonen jedoch, dass die Krise nicht nur ein technisches Problem, sondern auch eine moralische, soziale und emotionale Dimension hat. Während Rechtspopulisten gezielt Emotionen mobilisieren, setzen liberale und linke Akteure vor allem auf rationale Argumente. Da aber emotionale Ansprache in der heutigen Politik eine entscheidende Rolle spielt, scheitert der rein technokratische Ansatz.
  • 5. Aufgeschobene und unzureichende Klimapolitik: Die westlichen Gesellschaften schieben Klimapolitik immer wieder auf oder treffen nur unzureichende Maßnahmen. Regierungen vermeiden radikale Veränderungen, um keine Unzufriedenheit in der Bevölkerung zu erzeugen. Dadurch wird jedoch eine Zukunft mit noch drastischeren Maßnahmen unausweichlich. Die Autor:innen warnen davor, dass ein zu später Wandel dazu führen könnte, dass Demokratie und Ökologie tatsächlich in einen unlösbaren Konflikt geraten.
  • 6. Widersprüche innerhalb des demokratischen Systems: Je stärker westliche Demokratien auf die kurzfristigen Bedürfnisse der Bevölkerung reagieren, desto weniger sind sie in der Lage, langfristige und tiefgreifende ökologische Veränderungen durchzusetzen. Die Autor:innen betonen, dass Demokratie nicht nur darin besteht, kurzfristige Bedürfnisse zu erfüllen, sondern auch langfristige und notwendige Transformationen zu ermöglichen.

Richter und Ulrich argumentieren, dass die Ökologisierung der Demokratie notwendig sei, was eine revolutionäre Veränderung mit sich bringe. Dabei betrachten sie das Verhältnis zwischen Demokratie und Revolution aus einer anderen Perspektive als traditionelle Revolutionskonzepte. Die zentralen Merkmale der von ihnen geforderten ökologischen Revolution bzw. Reformen lassen sich wie folgt zusammenfassen:

  • Sie muss ein radikaler, aber gewaltfreier Veränderungsprozess sein.
  • Sie sollte im Rahmen der repräsentativen Demokratie stattfinden.
  • Die Zustimmung der Bevölkerung sollte gewonnen werden, ohne jedoch an bestehenden Gewohnheiten festzuhalten.
  • Es muss eine Balance zwischen technokratischer Steuerung und den Forderungen der Bevölkerung gefunden werden.
  • Bürokratische und politische Prozesse müssen beschleunigt und Entscheidungsmechanismen effizienter gestaltet werden.

In diesem Zusammenhang lassen sich drei grundlegende Ansätze der Autoren zu individuellen Freiheiten und staatlicher Intervention identifizieren:

  • 1. Der Staat muss in die ökologische Krise eingreifen: Die Autor:innen argumentieren, dass die bestehenden demokratischen Systeme nicht in der Lage sind, großflächige Bedrohungen wie die ökologische Krise effektiv zu bewältigen. Daher sollte der Staat eine aktivere Rolle übernehmen und ökologische Maßnahmen umsetzen – auch unabhängig von den aktuellen Präferenzen der Bevölkerung.
  • 2. Individuelle Freiheiten dürfen nicht uneingeschränkt sein: Die Autor:innen vertreten die Auffassung, dass individuelle Freiheiten nicht grenzenlos sein können, insbesondere wenn kollektive Bedrohungen wie die ökologische Krise vorliegen. Beispielsweise könnten Rechte wie Autofahren, Fleischkonsum oder Flugreisen aufgrund ihrer Umweltfolgen eingeschränkt werden. In diesem Zusammenhang stellen sie individuelle Freiheiten in einen moralischen Rahmen: Wenn eine Freiheit die Zukunft anderer gefährdet, kann sie nicht mehr als echte Freiheit betrachtet werden.
  • 3. Könnten ökologische Maßnahmen autoritärer werden? Die Autoren warnen davor, dass in Zukunft weit drastischere und undemokratische Einschränkungen notwendig werden könnten, wenn nicht bereits heute radikale Maßnahmen ergriffen werden. Um einen späteren Konflikt zwischen Demokratie und Ökologie zu vermeiden, müsse der ökologische Wandel jetzt Priorität erhalten.

    Dennoch betonen sie, dass Autokratie keine Lösung sei und dass radikale Maßnahmen innerhalb der Grenzen der Demokratie umgesetzt werden müssten.
Die Autor:innen argumentieren, dass das revolutionäre Subjekt, das den ökologischen Wandel vorantreiben wird, im traditionellen Sinne keine soziale Klasse oder Bewegung sein wird. Diese Revolution wird weder von der klassischen Arbeiterklasse noch von unterdrückten Gruppen angeführt. Stattdessen werden diejenigen Gruppen in den Vordergrund rücken, die zwar für die ökologische Krise mitverantwortlich sind, aber gleichzeitig zu deren Lösung beitragen können.

Im Buch lassen sich fünf zentrale Gruppen als mögliche Akteure der Revolution identifizieren:

  • Die konsumierende Mittelschicht: Sie wird die Revolution vorantreiben, indem sie ihre Konsumgewohnheiten ändert und sich aktiv an politischen Prozessen beteiligt.
  • Wissenschaft-Expert:innen: Sie werden durch Überzeugungsarbeit in der Bevölkerung und durch Beratung von politischen Entscheidungsträgern den Wandel unterstützen.
  • Politische Eliten: Sie werden mutige Entscheidungen treffen und die Transformation institutionell verankern.
  • Die junge Generation: Sie wird durch politischen und gesellschaftlichen Druck den Wandel beschleunigen.
  • Rentner und die Baby-Boomer-Generation: Ihre Unterstützung für den Wandel wird entscheidend sein, da diese Generation in der Vergangenheit maßgeblich zur ökologischen Zerstörung beigetragen hat.

Das Weiterdenken-Gespräch - taz Talk mit Hedwig Richter und Bernd Ulrich:
Das politische Buch als öffentliche Intervention:
Hedwig Richter und Bernd Ulrich: DEMOKRATIE UND REVOLUTION (Bruno Kriesky Forum):
Levitsky Tyrannei_der_Minderheit

Die Tyrannei der Minderheit

Steven Levitsky und Daniel Ziblatt

In den etablierten Demokratien sind undemokratische Akteure und ihre Wählerinnen und Wähler in der Minderheit. Was aber, wenn diese radikalisierten Minderheiten politische Instrumente zur Verfügung stehen, um ihre Interessen auch gegen demokratische Mehrheiten durchzusetzen?

Steven Levitsky und Daniel Ziblatt analysieren diese Dynamik in den USA und zeigen deren Instrumente auf: So verhindere das Wahlmännerkollegium, dessen Mehrheiten über den Ausgang der Präsidentschaftswahlen entscheiden, dass der Wahlausgang zwangsläufig dem Willen der Mehrheit entspricht. Ähnlich verhalte es sich mit der Zusammensetzung des Senates, in dem bevölkerungsreiche Bundesstaaten klar unterrepräsentiert sind.

Die Autoren zählen noch weitere, weniger offensichtliche Instrumente auf, etwa bei der Wählerregistrierung, dem Zuschnitt von Wahlkreisen oder der Ernennung von Richtern. Die Republikanische Partei, so Levitsky und Ziblatt, mache sich diese Schwächen offensiv zunutze, um ihre eigenen politischen Vorstellungen gegen die Mehrheit durchzusetzen.

Die amerikanische Verfassung und ihre Institutionen machen es radikalen Minderheiten leicht, politische Macht zu gewinnen und befreien sie von dem Zwang, mehrheitsfähige Politik zu betreiben.

Die Verteidigung der Minderheitenherrschaft geschieht oft mit dem Verweis auf Traditionen und die Verfassung, jedoch habe die US-Demokratie auch in der Vergangenheit auf gesellschaftlichen Fortschritt reagieren und Ungerechtigkeiten durch Gesetze abbauen können. Folglich sei es auch jetzt möglich, die Demokratie durch Reformen weiter zu demokratisieren.
Levitsky und Ziblatt lehnen nichtmajoritäre Institutionen nicht grundsätzlich ab. Jedoch sehen sie viele dieser Institutionen kritisch. Als ‚gute‘ nichtmajoritäre Institutionen betrachten sie solche, die schutzbedürftige Minderheiten und ihre Rechte vor der Mehrheit schützen, also einer ‚Tyrannei der Mehrheit‘ entgegenwirken. Hingegen sehen sie die nichtmajoritären Institutionen als ‚schlecht‘ an, die einer politischen Minderheit zur politischen Herrschaft verhelfen.

Als solche nichtmajoritäre Instituionen, die Minderheiten schützen, sehen Levitsky und Ziblatt beispielsweise Verfassungen und Verfassungsgerichte. ‚Schlechte‘ nichtmajoritäre Institutionen wären beispielsweise Institutionen wie das Wahlmännerkollegium oder der Senat in den Vereinigten Staaten von Amerika, welche bestimmte, eher ländlich geprägte Bundesstaaten bevorzugen, wodurch momentan die Republikaner einen Vorteil haben.

Eine strikte Unterscheidung ist jedoch nicht möglich. Denn bis zu gewissen Graden stehen die Autoren auch der Bevorzugung für ‚kleinere‘ Bundesstaaten offen gegenüber, so nennen sie beispielsweise den Bundesrat in Deutschland als ein mögliches Reformvorbild für den Senat in den Vereinigten Staaten von Amerika.
Darüber haben wir im Seminar intensiv diskutiert. Wichtiges Element der Argumentation von Levitsky und Ziblatt ist, dass die Möglichkeit der Minderheitenherrschaft aufgrund der nichtmajoritären Institutionen die Republikaner von dem Druck befreit, sich der Mehrheit der Wählerinnen und Wähler zu beugen, stattdessen kann sich ihr Extremismus, der laut den Autoren keine Mehrheit in der Bevölkerung hat, festigen (S. 217-222). Wenn die Republikaner wieder in der Lage wären, Mehrheiten zu gewinnen, wären sie laut den Autoren nicht mehr darauf angewiesen, die Minderheitenherrschaft zu verstärken, und ihre Angst davor, die Macht aufgrund der demographischen Entwicklung in den Vereinigten Staaten von Amerika dauerhaft zu verlieren, würde sich verflüchtigen. Dafür müssten sie eine ‚multiethnische Partei‘ werden, denn nur mit den Stimmen der weißen, europäisch stämmigen Bevölkerung ist keine Mehrheit auf Bundesebene möglich (S. 222).

Dass Trump aber den ‚popular vote‘ geholt hat, kann als Anzeichen dafür gesehen werden, dass die Republikaner weiterhin Mehrheiten gewinnen können und sie bereits eine ‚multiethnische Allianz‘ schmieden können. Ist damit die Argumentation der Autoren hinfällig? Um das besser beantworten zu können, müsste man die weitere Entwicklung arbeiten. Wichtig ist hierbei vor allem die Frage, ob die Mehrheitsfähigkeit der Republikaner bei der Präsidentschaftswahl 2024 eine Ausnahme war oder auf ein dauerhaftes Mehrheitspotenzial der Republikaner hindeutet. Es scheint aus unserer Perspektive möglich, dass die Republikaner trotz ihres Radikalismus mehrheitsfähig werden (sowie bleiben) und auch bei der nicht-weißen, nicht-europäisch stämmigen Bevölkerung ausreichend große Stimmanteile gewinnen. Jedoch ist es noch unklar, ob sich das ohne den ‚Faktor Trump‘, der als Person viele Wählerinnen und Wähler überzeugt, fortsetzen lässt. Wenn der ‚Faktor Trump‘ notwendig wäre für die Mehrheitsfähigkeit der Republikaner, dann stünden sie bald wieder vor dem Problem der fehlenden Mehrheitsfähigkeit.

Der deutsch-amerikanische Publizist und Politikwissenschaftler Yascha Mounk diskutiert bereits im Jahr 2023 u.a. die Frage, ob die Republikaner nicht bereits wieder mit einer ‚multiethnischen Allianz‘ mehrheitsfähig sind, mit Levitsky und Ziblatt in seinem Podcast ‚The Good Fight‘:

Klassische nichtmajoritäre Institutionen in Deutschland wären zum Beispiel das Grundgesetz aber auch das Bundesverfassungsgericht. Gerade diese beiden würden Levitsky und Ziblatt vermutlich weniger kritisch sehen, da sie die Aufgabe übernehmen, schutzbedürftigen Minderheiten den Schutz zu gehwähren, den sie benötigen.

Auch der Bundesrat, der kleineren Bundesländern überproportional viel politische Macht gibt, wird von Levitsky und Ziblatt wesentlich weniger kritisch gesehen als beispielsweise der Senat in den Vereinigten Staaten. Da die deutschen Landesregierungen aufgrund des Verhältniswahlrechts als dominierendem Wahlprinzip meist Koalitionsregierungen sind und bei Uneinigkeit innerhalb der Regierung im Bundesrat eine Enthaltung – die wie eine Ablehnung zählt – erfolgt, ist hier die Gefahr einer de facto Minderheitenherrschft relativ gering. Aber ausgeschlossen ist es nicht, der Bundesrat kann durchaus zur Blockade der bundesweiten Mehrheit im Bundestag genutzt werden, wenn die Opposition im Bundestag in vielen Landesregierungen vertreten ist.

Grundsätzlich würden Levitsky und Ziblatt die deutschen Äquivalente der von ihnen in den Vereinigten Staaten kritisierten nichtmajoritären Institutionen vermutlich wenig kritisch sehen, denn relativ gegenüber den Vereinigten Staaten sind diese Institutionen in Deutschland relativ mehrheitseinschränkend und bei Verfassungsgericht und Grundgesetz auch stark auf den Schutz von schutzbedürftigen Minderheiten ausgerichtet.
Dieser These würden wir in dieser Pauschalität nicht zustimmen. Jedoch zeigen Levitsky und Ziblatt am Beispiel der Vereinigten Staaten von Amerika sehr gut auf, warum diese These für viele nichtmajoritäre Institutionen gilt. Denn im Zuge der Demokratiewerdung und des Entwerfens von Verfassungen haben häufig Minderheiten, die vom ‚alten System‘ profitiert haben, noch mächtige Positionen inne. Häufig sind sie gar in der Lage, mit einem Veto den ganzen Prozess zu blockieren. Daher spiegeln Verfassungen häufig Kompromisse wider, mit denen Minderheiten ihre Privilegien absichern. Am Beispiel der Vereinigten Staaten zeigen Levitsky und Ziblatt beispielsweise auf, dass die Vertreter kleiner Bundesstaaten und solcher Staaten, in denen es noch weit verbreitet Sklaverei gab, ihre Veto-Möglichkeit genutzt haben, um für sie vorteilhafte Regelungen in die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika zu schreiben.
Die USA sind trotz der Probleme mit Wahlkreiszuschnitten (Gerrymandering) und strukturellen Verzerrungen immer noch eine funktionierende Demokratie, weil es regelmäßige Wahlen gibt, eine unabhängige Justiz besteht und Machtwechsel möglich sind. Zwar gibt es Manipulationsversuche, doch das System bietet weiterhin Mechanismen zur Korrektur, etwa durch Gerichtsentscheidungen, zivilgesellschaftliches Engagement und Wahlrechtsreformen auf Bundesstaatsebene. Zudem zeigen Wahlergebnisse, dass selbst in stark zugeschnittenen Wahlkreisen Überraschungssiege möglich sind, wenn die politische Stimmung stark genug kippt.
Applebaum Griesel_Jedli_Poster_Bookmarket_Anne_Applebaum_Die_Achse_der_Autokraten

Autocracy Inc.

Anne Applebaum

Autokratien haben sich zu einem vielschichtigen Netzwerk entwickelt und können sich aufgrund der Unterstützung anderer Autokratien ihre Machtstrukturen sichern. Applebaum zeigt, wie sich dieses Netzwerk zu einer autokratischen Allianz etabliert hat, die maßgeblich konträr zu den Bemühungen der westlichen Demokratien handeln.

Die Machthaber von Syrien, Belarus, Myanmar, Venezuela und anderen Autokratien unterstützen sich mit Waren- und Finanzströmen, Söldnern, Waffen und Equipment die ihren Ursprung in Russland, China oder dem Iran haben. In ihrem Buch macht Applebaum deutlich, wie der autokratische Drang zum Machterhalt und der Kampf gegen die Demokratie versuchen eine neue Weltordnung herzustellen. Das Buch beschreibt eine Beobachtung, bei der sich die westlichen Demokratien immer weiter von autokratischen Regimen beeinflussen lassen und ihre Position im asiatischen und afrikanischen Raum zunehmend, aufgrund von zielgerichteter Propaganda, verlieren.
Autokratien erwecken oftmals den Eindruck als würden sie unabhängige und alleinstehende Akteure sein. Anne Applebaum schafft es mit ihren klaren und detaillierten Darstellungen der diktatorischen Interdependenz diese Vorstellung vollständig zu entkräften. Die LeserInnen werden in “Die Achse der Autoraten“ mit einer Realität konfrontiert die augenöffnender nicht sein könnte.

Die Zusammenhänge autokratischer Machtstrukturen werden durch Anne Applebaum nicht nur kritisch betrachtet, sondern auch in den Kontext der demokratischen Überheblichkeit westlicher Demokratien gerückt. Somit erklärt die Autorin nicht nur ihr Konzept einer autokratisch diktatorischen Achse, sondern zeigt den LeserInnen auch wie Demokratien und ihre BürgerInnen den Einfluss von Diktatoren wie Putin, Lukaschenko und Assad aktiv zulassen. Das Buch schlüsselt die komplexen und oftmals unbekannten Narrativen der Autokraten auf, und dient als eindringlicher Weckruf für die Bewahrung und Sicherung der Demokratie und des demokratischen Friedens. Ein absolutes Muss für alle, die sich als DemokratIn verstehen!
Interview über ihr neues Buch „Die Achse der Autokraten“, ab Min. 12 wurde explizit im Seminar besprochen:
A. Applebaum über den Einfluss autokratischer Strukturen und ihr neues Buch, Vortrag für die 19. Annual Lipset Lecture, Min. 13 und 21:

Frage zu Anne Applebaum's "Autocracy Inc."

Antwort zur Frage: Wo wird der Einfluss autokratischer Regime auch für dich/Sie deutlich? Was macht diese Erkenntnis anfassbar?

Mit dem Absenden dieses Formulars bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen haben und akzeptieren.